Musikalische Ausgleichsvorgänge

(Eine Abhandlung über die Entwicklung neuer Klangsynthesizer von Hagen Grabowski)

 

Kreative Menschen schaffen Neues. Neue Produkte, neue Bücher, neue Musik.

Jede Neuheit ist zunächst ein geistiges Produkt. Es beginnt mit einer Idee, einer Skizze, einem Entwurf oder einem Klumpen Tonerde. Der Kreative Mensch formt diese Idee aus irgendeinem Grund. Handelt es sich um ein Produkt, so wird er oder sie wahrscheinlich in einem Unternehmen angestellt sein, in einem Team arbeiten und Geld dafür bekommen. Ein Buchautor wird sicherlich auch über eine hohe Auflage und ein gutes Honorar erfreut sein, wenn er seinen Roman fertig gestellt hat, doch er wird größtenteils eigenständig und aus innerem Antrieb heraus an seinem Roman geschrieben haben und nicht nur allein eines großen Gewinnes wegen.

Ein Komponist, der mit seinem musikalischen Werk sehr viele und (über Ländergrenzen hinweg) mit Instrumentalmusik neue Wege beschreitet, steht vor einer ganz anderen Herausforderung als die beiden vorher genannten Personen. Während ein Produkt meistens auf einer Vorgängermodell basiert, ein Team vorhanden ist und Zeitdruck vorliegt, ein Roman in 4 Monaten, aber auch 11 Jahren fertiggestellt werden kann, so sollte der Musikproduzent sowohl, was den Zeitrahmen der Musikproduktion, als auch sein Equipment betrifft, vor Allem auch Glück und (nicht zu unterschätzende) finanzielle Mittel haben.

Realistisch betrachtet ist fast Alles, was man sich überhaupt unter Musik vorstellen kann, bereits auf Platte oder CD veröffentlicht worden. Beschränkt man sich auf Musik ohne Gesang und klammert die Klassik aus, so wird der Boden schon etwas dünner. Betrachtet man die rein elektronische (nicht tanzbare) Musik, so fallen einem dann 3 bis 4 namhafte Künstler oder Bands ein, die mal damit Erfolg hatten. Es gab auch die Zeit der Klassikadaptionen und einzelne Hits mit Synthesizern, aber die Zahl derartiger Erfolgstitel ist, gemessen am Gesamtangebot von Musik, relativ klein.

Den Höhepunkt hatten Synthesizer - Musiker bis 1982, dem Jahr als die Analogtechnik abgelöst wurde.

Danach waren Synthesizer nicht mehr die alleinigen Klangerzeuger in Aufnahmen, sondern Elemente derselben.

Wenn es im Jahr 1982 einen finanziell unabhängigen Synthesizer – Entwickler gegeben hätte, der sich strikt der Digitaltechnik verweigerte und den Analogsynthie zur Vollendung gebracht hätte, dann hätte es vielleicht noch mehr Synthesizer Hits ab diesem Zeitraum gegeben.

Da jedoch die per Computer gesteuerten Synthies ab 1982 ein mindestens genau so großes Digitalboard zur Steuerung und Speicherung, wie ein analoges Klangerzeugungs- Board enthielten, war in der Hälfte des Gehäuses kein Platz mehr für weitere analoge Klangbaugruppen. Statt mehr Klangfülle gab es allerdings viele Speicherplätze.

Ab 1983 gab es kaum noch einen Synthesizer mit Potentiometern und Schaltern auf der Frontplatte, so daß sich die Klangveränderung während des Spielens auf die Modulationsräder oder Anschlagdynamik und Pedale beschränkte.

Während sich Ende der 70er Jahre noch einige Firmen an große analoge Synthesizerprojekte wagten, die allerdings auf Grund ihres Gewichtes und Preises kaum Abnehmer fanden, waren 5 Jahre später fast nur noch digitale Synthies mit Presetsounds auf sehr vielen Aufnahmen zu hören.

Digital war angesagt und alles analoge war out. CD Spieler verdrängten Tonbandgeräte und Plattenspieler vom Markt. Die ersten Tonstudios hatten digitale Recorder und eine Band mit einem Casio – Spielzeugkeyboard landete in Deutschland mit einem blödsinnigen Text und einer primitiven Melodie für kurze Zeit einen Riesenhit.

Schauen wir auf das Jahr 2016. Was ist seit 1983 musikalisch passiert ? Welche neuzeitliche Instrumentalmusik (außer dem Dance- und Disco- Bereich) konnte sich seit dem etablieren und ist noch heute als "Ohrwurm" abrufbar ? Mit einem Ohrwurm ist keine sich wiederholende Sequenz gemeint, sondern ein geniales Musikstück, per Hand eingespielt und kreativ abgemischt. Ein Musikstück mit Seele, mit Gefühl, mit Ausdruck.

Wäre der finanziell unabhängige Synthesizer – Entwickler aus dem Jahr 1982 jetzt aus seinem Dornröschenschlaf erwacht und würde er seine vollendete Analogtechnik jetzt einem genialen Komponisten zum Kauf anbieten, der für seine musikalische Idee nun endlich ein passendes Musikinstrument gefunden hat, so würde das zu einem sehr großen musikalischen Ausgleichsvorgang führen, der das in über 30 Jahren entstandene Vakuum mit neuer Musik auffüllen könnte.

Es gibt kleine musikalische Ausgleichsvorgänge, die sich im menschlichen Zwischenohr abspielen und die Nervenbahnen mit Informationen für das Gehirn versorgen und es könnte große Ausgleichsvorgänge geben, die das musikalische Vakuum einer Zeitepoche mit Leben aufzufüllen vermögen.

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